Bger 8c_474/2010 vom 29. juli 2010

BundesgerichtTribunal fédéralTribunale federaleTribunal federal{T 0/2}8C_474/2010Urteil vom 29. Juli 2010I. sozialrechtliche AbteilungBesetzungBundesrichter Ursprung, Präsident,Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,Gerichtsschreiber Holzer.
VerfahrensbeteiligteB.________,vertreten durch lic. iur. Kavan Samarasinghe,Beschwerdeführerin,gegenSchweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,Beschwerdegegnerin.
GegenstandUnfallversicherung (Berufskrankheit),Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 1. April 2010.
Sachverhalt:A.
Der 1944 geborene K.________ war von den 1960er bis zu den 1990er Jahre als Angestellter der Firma S.________ AG bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Berufskrankheiten versichert. In seiner beruflichen Tätigkeit kam er in Kontakt zu asbesthaltigen Materialien. Im April 2005 suchte der Versicherte wegen Husten, Schüttelfrost und Nachtschweiss seinen Hausarzt auf. Im Spital X.________ wurde daraufhin im Juni 2005 ein Plattenepithelkarzinom und ein malignes Mesotheliom diagnostiziert, am 11. Oktober 2005 erfolgte im gleichen Spital eine Pleuropneumonektomie rechts mit Lymphknotenentfernung sowie Perikard- und Zwerchfellersatz. Die SUVA anerkannte die vorwiegende Verursachung dieser beiden Karzinome durch die berufliche Asbestexposition und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Ab März 2006 trat beim Versicherten ein sporadisches Erbrechen auf, dieses nahm in der Folge zu. Im Juni 2006 wurde im Spital X.________ zusätzlich ein Kardiaadenokarzinom mit fortgeschrittener Dysphagie diagnostiziert. Da sich der Zustand durch die Behandlung zunächst verbesserte, wurde der Versicherte am 1. Oktober 2006 in die Klinik Y.________ verlegt, wo K.________ am 13. Oktober 2006 verstarb.
Die SUVA lehnte mit Verfügung vom 9. März 2007 und Einspracheentscheid vom 19. Juni 2008 einen Witwenrentenanspruch der überlebenden Ehefrau des Versicherten, B.________, ab, da K.________ nicht an den Folgen der Berufskrankheiten verstorben sei.
B.
Die von B.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 1. April 2010 ab.
C.
Mit Beschwerde beantragt B.________, die SUVA sei unter Aufhebung des Einsprache- und des kantonalen Gerichtsentscheides zu verpflichten, die gesetzlichen http://relevancy.bger.ch/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_que. 02.02.2011 Versicherungsleistungen, namentlich eine Hinterlassenenrente auszurichten.
Während die SUVA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt
für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die
in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz
gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund
gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz
abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4
S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden
rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen
werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105
Abs. 3 BGG).
2.
2.1 Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt
grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalles, eines Nichtberufsunfalles oder einer
Berufskrankheit voraus (Art. 6 Abs. 1 UVG). Als Berufskrankheiten gelten Krankheiten (Art.
3 ATSG), die bei der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch
schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind. Der Bundesrat
erstellt die Liste dieser Stoffe und Arbeiten sowie der arbeitsbedingten Erkrankungen (Art.
9 Abs. 1 UVG). Die schädigenden Stoffe und arbeitsbedingten Erkrankungen sind im
Anhang 1 zur UVV aufgeführt. In dieser Liste wird "Asbeststaub" als schädigender Stoff
erwähnt.
2.2 Nach der Rechtsprechung ist eine "vorwiegende" Verursachung von Krankheiten durch
schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten nur dann gegeben, wenn diese mehr wiegen
als alle anderen mitbeteiligten Ursachen, mithin im gesamten Ursachenspektrum mehr als
50 % ausmachen (BGE 133 V 421 E. 4.1 S. 425 mit weiteren Hinweisen).
2.3 Liegt eine Berufskrankheit vor, so wird für ihre weiteren Folgen nur der gewöhnliche,
adäquate Kausalzusammenhang gefordert. Für die grundsätzliche Haftung der SUVA
genügt es somit, wenn die Berufskrankheit zu einem kleineren Teil den Tod des
Versicherten verursacht hat; es ist nicht erforderlich, dass der Schaden vorwiegend durch
die Berufskrankheit bedingt sei, sofern die Berufskrankheit ihrerseits ausschliesslich oder
vorwiegend auf die im Gesetz genannten Ursachen zurückgeht (EVGE 1959 S. 5 E. 2 S. 8;
vgl. Urteil U 71/02 vom 27. März 2003 E. 6.1 und die dortigen Hinweise).
2.4 Soweit nichts anderes bestimmt ist, sind Berufskrankheiten von ihrem Ausbruch an
einem Berufsunfall gleichgestellt (Art. 9 Abs. 3 UVG). Sie gelten als ausgebrochen, sobald
der Betroffene erstmals ärztlicher Behandlung bedarf oder arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) ist.
Die Invalidenrenten, Integritätsentschädigungen und die Hinterlassenenrenten werden in
Anwendung von Art. 36 Abs. 2 UVG angemessen gekürzt, wenn die
Gesundheitsschädigung oder der Tod nur teilweise die Folge eines Unfalles (bzw. einer
Berufskrankheit) ist. Das Mass der Kürzung von Renten und Integritätsentschädigungen
beim Vorliegen unfallfremder Ursachen richtet sich gemäss Art. 47 UVV nach deren
Bedeutung für die Gesundheitsschädigung oder den Tod, wobei den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen des Berechtigten ebenfalls Rechnung getragen werden
kann.
3.
Der Versicherte verstarb am 13. Oktober 2006. Streitig und zu prüfen ist, ob die
http://relevancy.bger.ch/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_que. 02.02.2011 überlebende Ehefrau einen Anspruch auf eine Witwenrente der Unfallversicherung hat.
4.
4.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass beim Versicherten in den letzten beiden
Lebensjahren drei verschiedene Tumore diagnostiziert wurden: Ein Plattenepithelkarzinom
rechts, ein malignes Pleuramesotheliom und ein Kardiakarzinom. Die SUVA hat das
Plattenepithelkarzinom und das Pleuramesotheliom als vorwiegend durch eine berufliche
Asbestexposition verursacht und damit als Berufskrankheiten anerkannt. Demgegenüber
lehnt sie es ab, das Kardiakarzinom als Berufskrankheit oder als Folge einer
Berufskrankheit anzuerkennen.
4.2
4.2.1 Aus den Akten, insbesondere aus der Zusammenfassung der Krankengeschichte der
Klinik für Thoraxchirurgie des Spitals X.________ vom 10. Juli 2006 ergibt sich, dass es
sich beim Kardiakarzinom um ein Drittkarzinom, und nicht um eine Fernmetastase des
Plattenepithelkarzinoms oder des Pleuramesothelioms handelt. Somit ist das
Kardiakarzinom überwiegend wahrscheinlich nicht eine Folge einer der anerkannten
Berufskrankheiten.
4.2.2 Die Beschwerdegegnerin klärte ebenfalls ab, ob das Kardiakarzinom seinerseits als
vorwiegend durch die berufliche Asbestexposition verursacht und damit als eigenständige
Berufskrankheit anzuerkennen wäre. Aufgrund der Stellungnahmen der Prof. Dr. med.
T.________, Leitender Arzt der Klinik und Poliklinik für Onkologie des Spitals X.________,
vom 14. Februar 2007 und des SUVA-Arztes Dr. med. I.________, vom 2. März 2007
erscheint eine solche Verursachung zwar als allenfalls möglich, nicht jedoch als
überwiegend wahrscheinlich.
4.2.3 Ist das Kardiakarzinom nicht als Berufskrankheit zu qualifizieren, so kann als
Zwischenergebnis festgehalten werden, dass die SUVA zu Recht ihre Leistungspflicht für
die Folgen dieses Tumors verneint hat.
4.3 Wie Dr. med. I.________ in seiner Stellungnahme vom 2. März 2007 überzeugend
darlegt, war die Symptomatik spätestens ab Anfang Mai 2006 durch das Kardiakarzinom
bestimmt. Da jedoch ein Kausalzusammenhang zwischen den anerkannten
Berufskrankheiten und dem Tod des Versicherten nicht qualifiziert zu sein braucht (vgl. E.
2.3), um eine grundsätzliche Leistungspflicht der SUVA auszulösen, kann aus dieser
vorherrschenden Symptomatik noch nicht unmittelbar auf das Nichtbestehen eines
Witwenrentenanspruchs geschlossen werden. Zu fragen ist viel mehr, ob, wenn die
anerkannten Berufskrankheiten nicht ausgebrochen wären, der Tod des Versicherten
überwiegend wahrscheinlich in gleicher Weise und im gleichen Zeitpunkt eingetreten wäre
(vgl. BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181). Trifft dies zu, so wäre, wie die Vorinstanz unter
Hinweis auf das Urteil 8C_630/2007 vom 10. März 2008 E. 5.2 zutreffend erwogen hat,
selbst dann, wenn anzunehmen wäre, die Berufskrankheiten hätten ihrerseits ohne das
Auftreten des Kardiakarzinoms innert kurzer Zeit zum Tod des Versicherten geführt, eine
Leistungspflicht zu verneinen (sog. "überholende Kausalität"). Ist jedoch anzunehmen, der
Tod des Versicherten aufgrund des Kardiakarzinoms wäre ohne die anerkannten
Berufskrankheiten und deren Folgen nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt
eingetreten, so ist die grundsätzliche Leistungspflicht der SUVA zu bejahen.
4.4 Dem Bericht der Klinik Y.________ vom 19. Oktober 2006 ist in Bezug auf die letzten
Tage des Versicherten Folgendes zu entnehmen:
"Ab 10.10. kam es zu einer deutlichen AZ-Verschlechterung mit auch Verschlechterung der
CRP-Werte, vermehrte respiratorische Globalinsuffizienz in der arteriellen Blutgasanalyse
und infiltratverdächtigen Veränderungen in der linken Restlunge. Einleitung einer
antibiotischen Therapie mit Augmentin. Zudem zunehmende Anämie, es wurden 2
Erythrozytenkonzentrate transfundiert, aufgrund des schlechten AZ wurde bewusst auf eine
Abklärung der Anämieursache verzichtet. In der Folge weitere respiratorische
Verschlechterung, in Absprache mit den Angehörigen wurde bei präterminalem AZ bewusst
auf eine Rückverlegung ins Spital X.________ verzichtet. Übergang auf eine maximale
Komforttherapie. Am 13.10. um 17.20 Uhr erfolgte der erwartete Exitus letalis in
Anwesenheit der Angehörigen."
Aufgrund dieser Beschreibung ist davon auszugehen, dass der Tod auch aufgrund
respiratorischer Probleme eingetreten ist. Dem Versicherten wurde ein Jahr vor seinem
Tod, am 11. Oktober 2005, zur Behandlung der anerkannten Berufskrankheiten die rechte
Lunge entfernt. Somit erscheint es als überwiegend wahrscheinlich, dass der Tod des
Versicherten aufgrund des Kardiakarzinoms ohne die ausgebrochenen Berufskrankheiten
http://relevancy.bger.ch/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_que. 02.02.2011 nicht im selben Zeitpunkt eingetreten wäre.
4.5 Da der Tod des Versicherten teilweise auf die Berufskrankheiten zurückzuführen ist,
besteht grundsätzlich ein Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Witwenrente. Die
Beschwerde ist demnach gutzuheissen und Einsprache- und kantonaler Gerichtsentscheid
sind aufzuheben. Da das Ableben des Versicherten jedoch nur teilweise auf ein
versichertes Risiko zurückzuführen ist, wird die SUVA über eine Kürzung der Witwenrente
im Sinne von Art. 36 Abs. 2 UVG zu befinden und darüber zu verfügen haben. In Betracht
fällt bei den gegebenen Verhältnissen auch eine vergleichsweise Festlegung des
Rentenbetrages (Art. 50 ATSG).
5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat die
Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE 133 V 642 E.
5). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art.
68 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
Kantons Zürich vom 1. April 2010 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) vom 19. Juni 2008 werden aufgehoben. Die Akten
gehen an die SUVA, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 29. Juli 2010
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Ursprung Holzer
http://relevancy.bger.ch/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_que. 02.02.2011

Source: http://www.asbestopfer.ch/downloads/BGer_8C_474_2010_vom_29_Juli_2010.pdf

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